Das Ruhrgebiet ist auf meiner Deutschlandkarte ein weißer Fleck. Der ist beschriftet mit Worten aus Staumeldungen, Namen von Flüssen und Klischees. Mit dem Zug bin ich oft durchgefahren. In Essen und Dortmund sogar schon ausgestiegen und ein zwei Tage geblieben.

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Hafen in Hamm

Die Expedition zum Lückenschluss beginne ich in Hamm. Zu Fuß, das Gepäck auf einem Handwagen, trotze ich dem Herbst. Die erste Etappe führt mich von Hamm nach Lünen. Die Route verläuft immer entlang des Datteln-Hamm-Kanals, der die Landschaft so schnurgerade durchzieht, dass man nicht die geringste Abweichung von der angestrebten Luftlinie zu fürchten hat.

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Die Landschaft entlang des Kanals beginnt in Hamm mit einem Industriegebiet, welches früher gewiss einmal von der Nähe zum Hafen und zum Kanal profitiert hat. Was heute noch mit Schiffen transportiert wird, ist nur für einen geringen Teil der verbliebenen Betriebe von Bedeutung. Schon eher die Kraftwerke profitieren von dem preiswerten Transport der Schüttgüter. Sie verfeuern Kohle und Hausmüll und erzeugen Energie, die sonstwo verbraucht wird, wohl aber kaum noch in der Nähe der Erzeugung. Eine ganze Kette solcher Kohlfresser steht am Kanal, zieht das Kühlwasser aus der grünlichen Brühe.

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Kaum steigt man vom Deich des Kanals hinab in die Orte. Einzig die Marina in Rünthe verlangt einen kleinen Umweg und überrascht mit dem Versprechen maritimen Vergnügens in Gestalt eines aberwitzig großen Hafens mit angeblich 300 Booten, die nicht so aussehen, als hätten sie etwas mit Sport zu tun. Ein Boot an dieser Stelle, das ist, als hätte man eine längere Sackgassen zum Austragungsort eines Autorennens gewählt. Gleichwohl: es nennt sich Yachtclub, was da residiert. Und ähnlich kläglich einige Wassersportanlagen, gleich hinter dem Deich, mit langen Ruderboten in Stahlregalen. Welch trostloses Training zwischen rostroten Spundwandzeilen.

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Lünen habe ich in der Dämmerung erreicht. Die Pension, die Google versprach, hatte außer dem Schild am Haus nichts mehr zu bieten. Das nächstgelegene Hotel in der Fußgängerzone hatte ein Zimmer zu einem dreisten Preis.

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Das Morgengeläut: Kehrmaschinen und Laubgebläse. Marktstände mit Jogginghose und Socken.

Aber kaum verlässt man das Städtchen nach Süden, die Wohnblocks aus den Fünfzigern werden grauer, erreicht man eine geradezu pastorale Idylle.

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Wäre da nicht das stete Rauschen von Autobahnen.

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Die Autos und die Autobahnen. Die sind ein ständiger Begleiter, die es überall zu beachten gilt, und die wie unüberwindliche Flüsse die Landschaft zerschneiden. Auch ein Geknäult von Bahnlinien teilt das Revier. Während die Kanäle blieben, ist die Hälfte der Bahnen verödet. Grau bröckelnde Brücken für Nichts. Verwachsenen Gleise, verwunschene Dämme. Die Leute im Ruhrgebiet – so scheint es – fahren ständig hin und her, oder im Kreis. Aber wozu? Es sieht überall gleich aus, es ist überall gleich wenig zu tun. Also warum nicht bleiben, wo man ist?

Die einst stolze Region klammert sich an Erinnerungen. Nicht nur die Straßennamen künden von Schächten, Zechen, Halden. Auch einige große Wegweise halten trotzig fest, woran nur noch die Alten eine lebendige Erinnerung haben werden. Die Hallen beherberg nur noch selten Walzwerke, sie sind Getränkegroßhandel und anderen Logistikunternehmen gewichen. Auf den Brachen machen sich Gebrauchtwagen breit.

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Aber das Ruhrgebiet ist erstaunlich grün, war es doch in alten Zeiten tatsächlich agrarisch geprägt. Aber es gibt nicht mehr das klassische Dorf mit Anger und Kirche und Schule. Die Städte fasern auseinander. Die Landwirtschaft hat sich in Silos und Ställen vereinzelt, inmitten der Felder, gleich neben aus Größe und Zeit gefallenen Einfamilienhäusern, die Stadtrand spielen und doch den Bauern gehören werden. Große Limousinen in den Einfahrten, ist die Misere des Bergbaus an ihnen vorübergegangen.

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Geht man auf Castrop zu und nähert sich Herne, verdichtet sich das Grau. Keiner investiert mehr in die Häuser, die einmal verkehrsgünstig gelegen waren und deren schmutzige Scheiben nun in die Lichter der Autos starren, in den nassen Asphalt. Hier, an den Aus- und Einfallstraßen kniet keiner vor der Treppe und kratzt das Moos ab, ist keine Idylle herbeidekoriert, hier ist der Ruhrpott nackt.

Brav hat man neben den Straßen Fuß- und Radwege gebaut, oder wenigstens markiert. Und dreist raten die Wanderkarten zu genau diesen Wegen, die man eigentlich schnell hinter sich lassen will.

So die Trostlosigkeit des hügeligen Herbstes. Selbst die Trinkhallen, einst wichtige Stütze des Systems, sind verwaist. Vielleicht weil das Bier kastenweise in die Autos passt, keiner mehr die Flasche auf dem Heimweg will.

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In Herne, einer Kleinstadt mit U-Bahnanschluss, ein Hotel voller Überraschungen. Im Doppelzimmer für 77 € sind nicht nur Frühstück und W-LAN enthalten, sondern auch das Bier aus dem Kühlschrank im Flur, worauf der müde Gast ausdrücklich hingewiesen wird. Am Frühstückstisch wird man von Chef persönlich bedient – kein Gerangel am Buffet. Und wer ist der Betreiber? Ein Russe.

Ex oriente lux.