Eine Stadt mit auffällig vielen Namen, eine Stadt mit zahllosen Herrschaften auf dem Buckel und unzähligen Spuren an den Häusern – das ist das ukrainische Lviv. Es ist gut erhalten, wenn man mit „gut“ das meint, was ich darunter verstehe. Es ist nur ein wenige kaputtsaniert, glattrenoviert. Die ersten Plastikfenster in den Jugendstilfassaden – mit ein wenig gutem Willen gucken die sich weg.

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 So, wie das Geld jetzt nicht da ist für umfassende sorgfältige Restaurierungen der Straßenzüge, fehlte es früher offenbar für großflächigen Abriss.

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 Der ukrainische Staat hat Anfang der neunziger Jahre seinen Bestand an Wohnimmobilien ganz einfach an die Bewohner verschenkt – ganz egal wie viele Menschen in einer Wohnung residierten, notfalls wurde Eigentum zimmerweise gebildet. Doch der fürsorglich-vormundschaftliche Staat hat sich offenbar etwas übernommen mit der Entscheidung, Keller, Treppenhäuser, Dächer und Fassaden in kommunalem Eigentum zu belassen. Im Ergebnis dessen läuft Privatinitiative der Bewohner außerhalb der Wohnungen ins leere. Nur in der Innenstadt haben windige Investoren scheibchenweise die Wohnungen ganzer Häuser zusammengekauft und so letztlich auch die Herrschaft über die Fassaden übernommen.

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 Eine Folge dieser heterogenen Eigentumsverhältnisse sind ausbleibende energetische Sanierungen. Die Ukraine belegt beim Pro-Kopfverbrauch an Primärenergie einen polarkreistauglichen Spitzenplatz.

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 Als erstes muss man sich daher bei einem Besuch der Stadt an eine grundsätzlich etwas niedrigere Betriebstemperatur gewöhnen. Gerade in der Übergangszeit laufen die Heizungen auf Sparflamme oder eben noch gar nicht. Denn regulieren lassen sich die Heizkörper oft nicht.

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 Gleichwohl bescherte mir spätherbstliches, kühlen Wetter mit reichlich Sonnenschein ein Straßenleben, wie man es Deutschland lediglich in warmen Sommernächten vorfindet. Straßenmusiker, Händler aller Art, offene Kutschen, Muskelprotze in T-shirts. Tja, und mehr als 50 cm Rocklänge sind in der Ukraine offenbar jahreszeitenunabhängig verboten.

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 Lviv ist eine Stadt, die gerade jetzt zum beherzten Schlendern einlädt. Der Verkehr tobt auf den wenigen Achsen. Die Höfe, die Nebenstraßen und zahllose Plätze liefern ein ruhiges Kontrastprogramm. Und – wenn man das Geburtshaus von Sacher-Maso gefunden hat, die armenische Kirche besucht hat – 

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kann man den Touristenströmen getrost entfliehen und das Auge auf eine ruhigere Entdeckungsreise schicken. Zeichen im Stuck, alte Inschriften lassen erahnen, was in dieser Stadt einmal wichtig war: es war DIE Handelsstadt in Südosteuropa. Hier verlief die große via regia von Wien bis Kiew mit Anschluss an die Seidenstraße. Und ans Schwarze Meer und die Ostsee war es nahezu gleich weit.

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 Lviv ist eine strategische Investition gewesen, keine Suche nach der optimalen Lage an Fluss oder See. Eher die Hügel, die zugleich eine Wasserscheide zwischen Nord und Süd bilden, haben einen geologischen Anlass zur Besiedlung geliefert.

 Teil der Strategie der Gründerväter war auch eine kluge Ansiedlungspolitik: Polen, Ruthenen, Russen, Ukrainer, Deutsche, einige Franzosen und eine beachtliche Zahl Juden haben der Stadt schon im Mittelalter ein multiethnisches Gepräge gegeben.

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 Den Nazis ist es zum Glück nicht gelungen, die Juden ganz zu tilgen. An den Häuserwänden finden sich gelegentlich noch die Reklameschriften der Läden, die mit hebräischen Buchstaben als Lautschrift und von rechts nach links zu lesen das deutsche Wort „BUTTER“ vermerken, leider manchmal auch erneut von Nazis dekoriert.

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 Und die Synagoge darf nach einer Verwendung als Kino, Bibliothek, Turnhalle und Partyraum endlich wieder Synagoge sein, oder besser gesagt: werden. Die als Startkapital gedachte große Spende wurde leider zu früh von Dollar in die heimische Währung getauscht und fiel so zu einem erheblichen Teil der Inflation zum Opfer.

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 Aber solche Einschnitte bringen die Bürger von Lviv nicht aus der Ruhe. Geduldig stolpern sie durch abenteuerliche Baustellen, fahren mit klapprigen Bussen durch hupiges Getöse oder mit der nagelneuen Tram, die zumindest auf einigen Linien auf den Spurkränzen über ausgewalzte Schienen rollt.

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Also, besuchen Sie Lviv, bevor Sanierung und Gentrifizierung zugeschlagen haben.

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