Monat: Oktober 2013

Liv Lemberg Lwow

 Eine Stadt mit auffällig vielen Namen, eine Stadt mit zahllosen Herrschaften auf dem Buckel und unzähligen Spuren an den Häusern – das ist das ukrainische Lviv. Es ist gut erhalten, wenn man mit „gut“ das meint, was ich darunter verstehe. Es ist nur ein wenige kaputtsaniert, glattrenoviert. Die ersten Plastikfenster in den Jugendstilfassaden – mit ein wenig gutem Willen gucken die sich weg.

Eric Pawlitzky Fahrradladen

 So, wie das Geld jetzt nicht da ist für umfassende sorgfältige Restaurierungen der Straßenzüge, fehlte es früher offenbar für großflächigen Abriss.

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 Der ukrainische Staat hat Anfang der neunziger Jahre seinen Bestand an Wohnimmobilien ganz einfach an die Bewohner verschenkt – ganz egal wie viele Menschen in einer Wohnung residierten, notfalls wurde Eigentum zimmerweise gebildet. Doch der fürsorglich-vormundschaftliche Staat hat sich offenbar etwas übernommen mit der Entscheidung, Keller, Treppenhäuser, Dächer und Fassaden in kommunalem Eigentum zu belassen. Im Ergebnis dessen läuft Privatinitiative der Bewohner außerhalb der Wohnungen ins leere. Nur in der Innenstadt haben windige Investoren scheibchenweise die Wohnungen ganzer Häuser zusammengekauft und so letztlich auch die Herrschaft über die Fassaden übernommen.

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 Eine Folge dieser heterogenen Eigentumsverhältnisse sind ausbleibende energetische Sanierungen. Die Ukraine belegt beim Pro-Kopfverbrauch an Primärenergie einen polarkreistauglichen Spitzenplatz.

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 Als erstes muss man sich daher bei einem Besuch der Stadt an eine grundsätzlich etwas niedrigere Betriebstemperatur gewöhnen. Gerade in der Übergangszeit laufen die Heizungen auf Sparflamme oder eben noch gar nicht. Denn regulieren lassen sich die Heizkörper oft nicht.

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 Gleichwohl bescherte mir spätherbstliches, kühlen Wetter mit reichlich Sonnenschein ein Straßenleben, wie man es Deutschland lediglich in warmen Sommernächten vorfindet. Straßenmusiker, Händler aller Art, offene Kutschen, Muskelprotze in T-shirts. Tja, und mehr als 50 cm Rocklänge sind in der Ukraine offenbar jahreszeitenunabhängig verboten.

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 Lviv ist eine Stadt, die gerade jetzt zum beherzten Schlendern einlädt. Der Verkehr tobt auf den wenigen Achsen. Die Höfe, die Nebenstraßen und zahllose Plätze liefern ein ruhiges Kontrastprogramm. Und – wenn man das Geburtshaus von Sacher-Maso gefunden hat, die armenische Kirche besucht hat – 

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kann man den Touristenströmen getrost entfliehen und das Auge auf eine ruhigere Entdeckungsreise schicken. Zeichen im Stuck, alte Inschriften lassen erahnen, was in dieser Stadt einmal wichtig war: es war DIE Handelsstadt in Südosteuropa. Hier verlief die große via regia von Wien bis Kiew mit Anschluss an die Seidenstraße. Und ans Schwarze Meer und die Ostsee war es nahezu gleich weit.

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 Lviv ist eine strategische Investition gewesen, keine Suche nach der optimalen Lage an Fluss oder See. Eher die Hügel, die zugleich eine Wasserscheide zwischen Nord und Süd bilden, haben einen geologischen Anlass zur Besiedlung geliefert.

 Teil der Strategie der Gründerväter war auch eine kluge Ansiedlungspolitik: Polen, Ruthenen, Russen, Ukrainer, Deutsche, einige Franzosen und eine beachtliche Zahl Juden haben der Stadt schon im Mittelalter ein multiethnisches Gepräge gegeben.

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 Den Nazis ist es zum Glück nicht gelungen, die Juden ganz zu tilgen. An den Häuserwänden finden sich gelegentlich noch die Reklameschriften der Läden, die mit hebräischen Buchstaben als Lautschrift und von rechts nach links zu lesen das deutsche Wort „BUTTER“ vermerken, leider manchmal auch erneut von Nazis dekoriert.

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 Und die Synagoge darf nach einer Verwendung als Kino, Bibliothek, Turnhalle und Partyraum endlich wieder Synagoge sein, oder besser gesagt: werden. Die als Startkapital gedachte große Spende wurde leider zu früh von Dollar in die heimische Währung getauscht und fiel so zu einem erheblichen Teil der Inflation zum Opfer.

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 Aber solche Einschnitte bringen die Bürger von Lviv nicht aus der Ruhe. Geduldig stolpern sie durch abenteuerliche Baustellen, fahren mit klapprigen Bussen durch hupiges Getöse oder mit der nagelneuen Tram, die zumindest auf einigen Linien auf den Spurkränzen über ausgewalzte Schienen rollt.

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Also, besuchen Sie Lviv, bevor Sanierung und Gentrifizierung zugeschlagen haben.

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Gentrifizierung und keiner geht hin

 

Gehöft in Snipiskes

Gehöft in Snipiskes

Klein-Shanghai besteht vor allem aus Holzhäusern. Die meisten sind nicht an die Kanalisation angeschlossen. Wasser gibt es oft nur aus der Pumpe. Hier, mitten in Vilnius, ist die Kriminalitätsrate mit am höchsten. Nur wenige Neubauten haben sich zwischen die teils sehr kreativ erweiterten historischen Häuser gemogelt. Die augenfälligsten Neubauten stehen am Rand des Areals wie eine futuristische Drohung. Es sind die Glasfassaden des Businesscenters mit 33 Etagen und das neue Haus der Stadtverwaltung von Vilnius.

Neubauten am Rande von Snipiskes

Neubauten am Rande von Snipiskes

Noch vor wenigen Jahren brannte es in Snipiskes – so der offizielle Name des Quartiers – regelmäßig. Das war die billigste Methode zur Umgehung von Denkmalschutz und Abrisskosten. Dann setzte die Wirtschaftskrise ein und seit 2008 brennt es nur noch, wenn jemand im Rausch mit Zigarette eingeschlafen ist.

Vorgarten in Snipiskes

Vorgarten in Snipiskes

Die Gärten vermitteln eine Idylle, die ein wenig fragwürdig erscheint. Stünde das Quartier in Berlin, wäre es über kurz oder lang von Künstlern, wenig später gewiss auch von jungen Familien okkupiert. Doch weit und breit kein Spielplatz, kein Cafe. Gerade einmal eine Fahrradwerkstatt beflügelt die lokale Wirtschaft.

Fahrradladen in Snipiskes

Fahrradladen in Snipiskes

Woher kommt der Stillstand, einen Katzensprung von der historischen Altstadt und dem neuen Businesscenter entfernt?

Die Ursachen sind vielfältig. Die gegenwärtige soziale Mischung – hier wohnen überwiegend ärmere Menschen, Pensionäre und ein nicht geringer Anteil an Alkohol- und Drogenabhängigen – ist für die Mittelschicht nicht wirklich attraktiv. Die Kreativen haben – gleich neben der Kunsthochschule – zunächst einmal Uzupis für sich entdeckt. Ein ehemals heruntergekommenes Quartier, in dem jetzt der Bürgermeister wohnt, der – so wird erzählt – inzwischen einen beachtlichen Teil der Grundstücke erworben hat.

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Einen Grund für das Desinteresse der Investoren an Snipiskes scheinen aber auch Unsicherheiten in der Planung für das Viertel zu liefern. Die Stadt erwägt eine weitere Brücke über den Ner. Diese wird in eine neue Nord-Süd-Verbindung münden, welche Snipiskes durchqueren und auch Raum für eine Straßenbahn schaffen soll. Die einzige asphaltierte Straße des Quartiers würde wohl vor einer drastischen Verbreiterung stehen.

Die Chefin der Planungsbehörde von Vilnius spricht von einer notwendigen Verdichtung des Quartiers. Mehrgeschossige Neubauten sollen entstehen. Mit der neuen Querung der Stadt will man die wachsenden Pendlerströme aus dem Umland und den neu entstandenen Suburbs bewältigen. Tatsächlich steht in der Stadtverwaltung ein Modell, auf dem der größte Teil der grünen Siedlung von merkwürdigen Quadern verdrängt ist.

Modell zur Stadtplanung von Vilnius

Modell zur Stadtplanung von Vilnius

Doch wozu Verdichtung einer grünen Oase, wenn Litauen fast 15% seiner Bevölkerung durch Auswanderung verloren hat? Und was passiert mit der Geschichte dieses Viertels, die wie eine offene Wunde für die ethnischen Wirren Litauens steht? Noch leben dort Russen, Polen, Sinti und Roma und natürlich auch Litauer in einem bunten Nebeneinander.

Die Chefin der städtischen Planungsbehörde sieht ihre Aufgabe darin, die Rahmenbedingungen für Investitionen in der Stadt möglichst optimal zu gestalten.

 

Jekaterina

Jekaterina

Jekaterina, Assistentin an der Fachhochschule von Vilnius, versucht etwas anderes. Mit Infotafeln für verschiedene kulturelle Aktivitäten, mit Kunstaktionen und einem Fest für die Bürger hat sie versucht, die lokale Identität von Snipiskes zu beflügeln. Das ist ihr auch gelungen. Als sie herumtelefoniert, um Interviewpartner zu finden, kann man erleben, wie gut sie im Viertel vernetzt ist. Und sie wurde auf Initiative der Stadtverwaltung sogar zu dem Gespräch im Planungsamt eingeladen.

 

Die Bürger selbst sehen die aktuelle Situation sehr differenziert. Manch einer wartet auf die Spekulanten um sein heruntergekommenes Holzhäuschen schnell zu versilbern. Auch ein Straßenbauprojekt der Stadt könnte für einige diesen Effekt haben. Doch für die meisten der Einwohner ist es schlicht nicht bezahlbar, das eigene Grundstück an die Kanalisation anzuschließen, die Häuser behutsam zu sanieren. Irina (?) steht aufgeregt vor ihrem Haus und schimpft. „Ja, ich habe meine Wohnung gut hergerichtet. Aber im Erdgeschoss unseres Hauses wurde eine Wohnung privatisiert, die seit dem leer steht. Nur Ratten sind dort eingezogen. Alles verfällt und bald wird auch meine Wohnung nichts mehr wert sein.“

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So weitsichtige wie Ausra. Übersetzerin von Beruf, sind nur Wenige. Sie hat hier 1997 sehr günstig eine kleine Wohnung gekauft, die sie Schritt für Schritt zu einem komfortablen Heim ausgebaut hat. Sie setzt auf langfristig kostengünstiges, ruhies Wohnen. Bleibt zu hoffen, dass sie recht behält.

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