Der normale Vietnamese besteht aus seiner selbst und einem Motorbike (Synonym für alles mit zwei Rädern und irgendeinem Motor). Seltener besteht er aus seiner selbst und einem Fahrrad, einer Rikscha, einem Müllwagen oder gar einem Auto. Vietnamesen, die einfach so auf zwei Beinen herumlaufen, sind entweder zu Hause oder noch seltner.
Und natürlich kann man das Moped auch in der Bahn mitnehmen…
Die Vietnamesen mögen Lärm. Den machen sie mit allem, was zur Verfügung steht, den ertragen sie aber auch mit größter Teilnahmslosigkeit. Sie lassen morgens um fünf auf dem Flur den Hund der Familie in der Pension herum bellen. Sie knattern mit ihren „Motorbikes“, gern auch mal mit lädiertem Schalldämpfer. Und die Hupen sind im Dauerbetrieb. An einem gut getunten „Motorbike“ müssen sich mindestens fünf Schalter für die Hupe befinden. Gehupt wird, wenn man sich einer Kreuzung nähert, gehupt wird vor, während und nach dem Überholen (letzteres als Zeichen für Dank, Anerkennung oder Missbilligung). Gehupt wird, wenn der Kumpel entgegenkommt oder gar einer der unzähligen Verwandten. Gehupt wird, wenn der europäische Fußgänger unentschlossen am Straßenrand steht. Gehupt wird vor der Kurve, beim Losfahren, bei Passieren von Fußgängern und Radfahrern. Und die fünf Schalter für die Hupe sind rein funktional auch erforderlich, denn während der Fahrt muss ja noch geraucht, geredet und telefoniert werden, wenn man nicht gerade eine Leiter unter dem Arm hat oder mit einem Bündel Rohre auf der Schulter unterwegs ist.
Demzufolge ist es auch keiner Erwähnung wert, wenn das Hotelzimmer an eine Straße grenzt, zwar nah an der Fußgängerzone der Altstadt, aber abends dennoch mit dem Lärmpegel einer Autobahn versehen.
Das Wichtigste aber ist, dass der normale Vietnamese ausgesprochen freundlich ist. Selten verliert er die Contenance. Wenn man ihn oder sie brüllen hört, dann eigentlich nur, wenn es etwas zu verkaufen gibt. Für alle anderen dringenden Fälle gibt es Hupen (siehe oben). Ruhig sind die Vietnamesen deswegen noch lange nicht. Denn im Zug so lang und so laut zu telefonieren, bis der Akku streikt, ist kein Problem.
Selbst durch stärksten Dauerregen und stundenlangen Stromausfall lassen sich Vietnamesen nicht aus der Ruhe bringen. Fährt man halt mit Regencape oder wenigstens Regenschirm auf dem Motorroller herum. Von den Regencapes gibt es sehr große Modelle, unter denen auch die üblichen vier Familienmitglieder, die abends auf dem Motorroller sitzen, Platz haben.
Erotik ist dem Vietnamesen weitgehend fremd, zumindest in der Weise, wie wir sie wahrnehmen. Alle sind züchtig gekleidet, im jetzigen „Winter“ sowieso. Allenfalls trägt mal ein Mädchen auf dem Motorroller frech einen Minirock oder ist ein Kleid konturenbetonend geschnitten. Öffentliches Hand in Hand gehen oder gar Küssen haben wir nie gesehen. Und für die Werbung gilt „Heimat sells“, Sex aber nicht.
Gleichwohl wird viel Wert auf Äußeres gelegt. Das fängt bei der oft sehr gut sitzenden, vielleicht sogar maßgeschneiderten Kleidung an und hört bei den Fingernägeln nicht auf. Bleaching ist der allgemeine Trend. Wer blass ist, gilt als schön. Das wird mit fettigen Cremes gesteigert, die irgend was Schlimmes mit der Haut machen, die Frauen haben dann blasse und fettig glänzende Gesichter, toll. Haare werden immer öfter gefärbt, bei den Männern gern auch mal gegelt.
Während einem Erwachsene nur selten in die Augen schauen – das gilt in ganz Asien als unschicklich – brüllen die Kinder auf den Dörfern um Chat Lap, einer Gegend, die gerade vor der finalen touristischen Erschließung steht, zur Begrüßung aus Leibeskräften „Money!!!“, wenn man auch nur in der Ferne vorbei wandert. Sie sprechen es aus wie „Manni“ und meinen vielleicht, das sei ein Wort für Europäer, oder sie denken, alle Deutschen heißen Manfred.
Im Restaurant wird einem flugs die Karte gereicht, dann wird erst mal lauwarmer Tee im Glas hingestellt, dann kommen Essen und Getränke und danach kommt nichts mehr, wenn man nicht wild gestikuliert. Keine Frage nach Dessert oder Kaffee oder gar dem zweiten Bier durch das Personal. Aber es wird auch nicht gemeckert, wenn man nach einer Stunde immer noch da sitzt und der Tee längst ausgetrunken ist.
Natur gibt es in Vietnam ohne Ende. Überfluss reduziert den Preis. Und offenbar auch den Wert. Müll findet man an Flüssen und Straßenrändern in großen Mengen. Auf fast jedem Privatgrundstück, wenn es denn nicht bis in den letzten Zipfel bebaut ist, existiert die obligatorische Ecke für Krimskrams aller Art und auch Müll. Trotz des Umstandes, dass es den Beruf des Müllsammlers gibt und jeder morgens vor seinem Laden gründlich fegt, keine Wohnung und oft auch kein besserer Laden ohne das vorherige Ausziehen oder Wechseln der Schuhe betreten werden darf.
Mir scheint, in Vietnam ist die Plastiktüte erfunden worden. Und gerade weil sie in manch anderen Ländern gerade verboten wird (z.B. Kenia), wird sie in Vietnam demonstrativ zelebriert, zum Andenken an den Erfinder, so wie die Deutschen verbissen am Dieselauto festhalten. Man frönt dem Plastikgott durch permanentes Darbringen von Opfern an spontan errichteten Altären in Stadt und Land.
Offenbar weitgehend frei von einer Siedlungsplanung im engeren Sinne werden ganze Landstriche mit Hotels zugeballert, natürlich immer da, wo es wirklich nett ist oder gewesen sein könnte. Daher: beeilt Euch, wenn ihr Vietnam noch halbwegs nett erleben wollt, da wo es nett ist. Soviel zur Natur. Es gibt noch genug und sie wächst extrem schnell nach.
Dafür genießen Flüsse hier noch Freiheiten, wie sie in Europa kaum noch existieren: sie können fließen, wie sie wollen, nur selten eingedeicht. Es gibt Sandbänke, Inseln, ganze Bündel von Flussarmen. Das romantische Flussufer in der Stadt gibt es hingegen selten. Die Flüsse in den Städten riechen oft nich besonders toll und sind eher wie Kanäle gehalten. Trotzdem wird an jedem noch so kleinen grünen Tümpel geangelt, und auch an den Flüssen in der Stadt.
In Vietnam gibt es erfreulich wenig Hunde in den Städten. Das ist sicher dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass diese ab und zu gegessen werden, nicht nur in China. So wie den Hunden geht es offenbar auch den Vögeln. Auch von diesen sieht und hört man wenig in den Städten. Und weil das so ist, hat man in Tuy Hoa, der Stadt, in der wir zu Zeit weilen, an der Uferpromenade auf einigen Hausdächern Lautsprecher installiert, welche tagsüber Vogelgezwischter verbreiten. Claudia dachte anfangs, ich will sie veräppeln, aber dann konnte sie auch Lautsprecher und Geräusch zweifelsfrei identifizieren. Das ist schon bissel wie in Matrix.
Also alles gut mit der Natur. Nur die Luft, die Luft bleibt einem schneller mal weg, oder kratzt im Hals, wenn man längere Zeit in Hanoi spazieren geht. Ob da der obligatorische Beißkorb, Mundschutz oder was auch immer hilft, ist zu bezweifeln.
Wohl kaum ein Volk ernährt sich so gesund wie das vietnamesische. Es gib so gut wie keinen Einsatz von Zucker und Salz. Die Suppe am Morgen ist kalorienreich, weil mir Reis oder Nudeln zubereitet, aber insgesamt nicht fettig und mit viel Gemüse gemacht. Wer allerdings Knoblauch und Hühnerfleisch verabscheut, wird eine schwere Zeit haben, vor allem im Norden. Gerade Ausländern wird gern viel Fleisch serviert – auch hier noch ein Statussymbol. Aber Gemüse und Obst sind sehr angesagt. Bei der Zubereitung wird viel Phantasie an den Tag gelegt: zu knusprigen Platte geformte frittierte Bananen gibt es an Straßenständen, Reispapier wird zur Zubereitung aller möglichen Rollen benutzt, oft auch direkt am Restauranttisch. Kleine Holzkohlengrills zum Brutzeln, brodelnde Töpfe mit Sud, befeuert von Gaspatronen oder Brennpaste, stehen auf den Tischen im Restaurant für das gemütliche Garen mit Freunden. Es gibt keinen Hunger in Vietnam und noch kein Problem mit überbordender Fettleibigkeit.
Einen besonderen Absatz muss ich den vietnamesischen Frauen widmen. Man sieht sie ähnlich wie in Russland tapfer auf Baustellen schaufeln und sieben. Sie fahren cool ihre Mopeds, tragen öfter mal Uniform und treten durchaus souverän auf. Die Männer jedoch lassen sich nach wie vor gern bedienen, sitzen tags auf der Straße und trinken Tee, was man in umgekehrter Ordnung nie sieht. In manchen Berufen ist die Trennung nicht so krass wie in Deutschland: Verkaufspersonal ist gerecht gemischt, ebenso die Bedienung und die Küche im Restaurant. Die Frauen waren gleichberechtigt in der Armee während des letzten Krieges, wenn auch hier nur ausnahmsweise in Führungspositionen. Aber nach dem Krieg wurden zuerst die Frauen demobilisiert -und danach oft arbeitslos. Vom Krieg gezeichnet und um ihre Jugend gebracht hat diese Generation auch privat oft kein leichtes Leben gehabt.
Kommen wir zurück zum freundlichen vietnamesischen Menschen an sich. Wie die Natur scheint es auch ihn in großen Mengen zu geben und auch er scheint nicht teuer zu sein. Denn es gibt aus der Perspektive des noch unter dem Eindruck des Neoliberalismus stehenden Europäers einen gigantischen Personalüberhang. Überall ist man von Servicekräften umzingelt. Die sind oft ausgesprochen hilfsbereit, bestens organisiert, pragmatisch, schnell und einfach gut. Manchmal steht der Service aber auch herum, oder er sitzt: an Eingängen zu Nationalparks (der Ticketverkäufer, der Ticketkontrolleur, der Parkplatzeinweiser, der Pakplatzwächter, die zuständige Reinigungskraft für den Parkplatz und die für das Klo, die fünf Verkäuferinnen im ansonsten menschenleeren Souvernierladen, die Verkäuferin für Wasser und Kekse usw.).
Am augenfälligsten ist das bei Zugfahrten, die wir uns (Stand heute) drei mal gegönnt haben. Für jeden Wagon gibt es einen – ich nenn es mal – wagonbegleitenden Hauptverantwortlichen, der, wenn der Zug hält, die ansonsten mit Vorhängeschlösschen verriegelten Türen öffnet, außen das Schild mit der Wagonnummer nach der Einfahrt in den Bahnhof ansteckt, nicht jedoch die völlig verschmierten Griffe an den Stiegen säubert, an denen man vom Bahnsteig aus hinaufklettern muss, und schon gar nicht die Toiletten (die Stelle zur Reinigung derselben in den Waggons ist derzeit für sämtliche Abteilungen der vietnamesischen Eisenbahn vakant.) Mindestens vier Personen rennen regelmäßig mit diversen Verkaufswägelchen durch die Waggons und offerieren Speisen und Getränke aller Art. Hält der Zug länger auf einem Bahnhof, werden diese Kräfte durch die Wagons stürmende Spontanverkäuferinnen aus der lokalen Bevölkerung verstärkt.
Dann gibt es noch die aus ca. fünf Leuten bestehende Küchenmannschaft, die in einer richtigen Küche werkelt, die etwa die Hälfte des Speisewagens ausmacht. Haben alle Servicekräfte Mittagspause, ist der Speisewagen voll. Dann wird dort nicht nur gegessen, sondern auch nach Herzenslust geraucht. Der Zugführer hat sich auch gleich im Speisewagen eingerichtet und schreibt penibel die Uhrzeiten in eine Liste, zu denen der Zug diverse Bahnhöfe passiert. Nebenbei hält er gelbe und rote Fähnchen aus dem Fenster und winkt den Leuten an den Bahnschranken, den Leuten, die Ein- und Ausgänge von Tunnels bewachen, den Leuten, die die Einfahrten zu Bahnhöfen sichern (gelbe Fähnchen). Letzteres gewiss eine notwenige Maßnahme zum Betrieb der nahezu durchgehend eingleisigen Strecken.
Ach ja, und Lokführer gibt es auch noch, vermutlich um die fünf. Und den Verantwortlichen für das Rail-TV, das über Monitore in den besseren Waggons zu sehen und zu hören ist.