Autor: Eric Pawlitzky

Der vorliegende Blog ist unser Reisetagebuch. Per email sind wir unter ericpawlitzk(at)web.de zu erreichen.

Tartu

Nun sind wir endlich mal ein Stück mit der richtigen estnischen Eisenbahn gefahren. Auch in den Schnellzug darf man ohne Fahrkarte einsteigen und ganz bequem und ohne Aufschlag an Bord bezahlen.

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Die Zugabteile sind modern und sauber, der Zug rattert ein wenig, aber es gibt keinen Grund zur Klage.

 

Das Fotografieren aus dem fahrenden Zug gelingt ob der geringen Geschwindigkeit nahezu verwacklungsfrei. Die Landschaft ist dünn besiedelt: Wiesen, Wälder, Sümpfe und ab und zu mal ein Dorf. Selbst Felder scheinen die Ausnahme zu sein.

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Aber der Zug fährt nur deshalb so langsam, weil die Gleise recht marode sind oder weil gerade eine der unzähligen Baustellen passiert wird. Die gesamte Strecke, alle Bahnhöfe und auch die kleinen Bahnsteige auf den Dörfern werden gerade mit EU-Mitteln saniert. Das ist gut und mutig, denn der Bus scheint in Estland klar zu dominieren. Das stellen wir zumindest fest, wenn wir mit Leuten vor Ort über unsere Reisepläne sprechen. Kein Wunder, in den Bussen gibt es sogar einen kostenlosen Internetzugang. Aber die Bahn ist sehr günstig und scheint ein wenig aufzuholen.

 

Die 185 km bis nach Tartu haben wir nach gut 2 Stunden geschafft. Dann zockeln wir vom Bahnhof mit unserem Gepäck zum Quartier in der Altstadt. Unsere Pension wird von Finnen bewirtschaftete und ist innen ganz im skandinavischen Stil eingerichtet. Sogar eine Sauna gibt es. Alles ist mit Werken verschiedener zeitgenössischer Künstler dekoriert, in unterschiedlicher Qualität.

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Die Stadt hat nach zahlreichen Zerstörungen in den unterschiedlichsten Zeitaltern (allein im Mittelalter ist sie 55 mal komplett abgebrannt) einige schöne klassizistische Bauwerke erhalten können. Darunter auch das Universitätshauptgebäude und das „schiefe Haus“.

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Die einzige gotische Kirche wurde erst vor wenigen Jahren wieder aufgebaut. Daneben – so könnte man meinen – Breschnjews letzte Rache.

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Es gibt eine Fußgängerzone, die sich wie eine große Entschuldigung durch die Altstadt zieht. Denn städteplanerisch ist der Ort nur zu bedauern: riesige Shoppingmalls, Büromonster und überdimensionierte Hotels neben Magistralen, auf denen die gerade einmal 100.000 Einwohner etwas verloren wirken.

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Einzig das „Schneckenturm“ oder auch „Korkenzieher“ genannte Hochhaus, vor etwa 5 Jahren gebaut, zeugt von planerischem Mut. Das Ufer des Emajogi – ein Fluss, von dem der geneigte Leser bestimmt schon viel gehört hat – wird gerade etwas aufgehübscht.

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Das Wetter ist regnerisch. Morgen geht es weiter nach Riga, wobei wir noch nicht so richtig wissen, wie es nach Valga, der letzten Eisenbahnstation vor der Grenze nach Lettland, weitergeht. Es gibt eine Eisenbahnlinie, die in Lettland weiter nach Riga führt, aber ob es eine Verbindung zwischen beiden Strecken gibt, werden wir vermutlich erst morgen erfahren.

 

 

Tallinn die 3.

Natürlich beschäftigt man sich zwangsläufig auch mit der Geschichte und der Situation des Landes, welches man bereist.

 

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Was uns insgesamt an Tallinn auffällt, ist eine bemerkenswerte Entspanntheit. Es ist nicht die Trägheit, die uns deutschen ab und zu in südlichen Ländern auffällt, es ist auch keine Hektik, es ist eine angenehme Geschäftigkeit, die hier scheinbar alle erfasst hat. Man sieht – abgesehen von den zahlreichen Touristen – niemanden herum sitzen, nur sehr vereinzelt Bettler. Man kann bei einem morgendlichen Spaziergang durch die Stadt, auch durch die Randbezirke, zahllose Menschen dabei beobachten, wie sie die Fußwege fegen. Das sind aber keine städtischen Angestellten, sondern zum Teil recht wohl gekleidete Männer und Frauen, denen offenbar die Sauberkeit der Stadt am Herzen liegt.

 

 

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Die Menschen sind sehr gut gekleidet. Und anders als in St. Petersburg stellt man den gerade erworbenen Wohlstand nicht allzu demonstrativ zur Schau. Auch die Zahl der Luxuskarossen hält sich in Grenzen.

 

 

Morgens in einer Kaufhalle spricht mich die Kassiererin auf englisch an, weil sie mich mit meinem Fotorucksack schnell als Touristen identifiziert hat. Ich antworte aber auf russsisch, was sie problemlos erwidert. Wo bitte findet man in Berlin oder gar in Erfurt eine Kassiererin, die drei Sprachen mit der größten Unbefangenheit im Umgang mit ihren Kunden benutzt? Bei einem Bäcker war die gesamte Auslage in estnisch und deutsch beschriftet. Gestern aßen wir in einem georgischen Restaurant und die Karte enthielt eine Beschreibung der Speisen in vier Sprachen: estnisch, finnisch, russisch und englisch. Selbst ein Hochglanz-Modemagazin, was ich im Hausflur aufgabelte, war komplett zweisprachig in estnisch und in russisch, der beiden hierzulande am häufigsten gesprochenen Sprachen, verlegt. Welche deutsche Verkäuferin in Berlin kommt auf die Idee, türkisch zu lernen?

 

 

Natürlich besinnen sich die Esten mit ihrer ja erst seit dem Jahre 1991 wieder gewonnenen Unabhängigkeit sehr auf nationale Traditionen. Den Jahrzehnten der „Russifizierung“ setzen sie jetzt einiges entgegen. Dennoch ist die Öffnung zur Welt bemerkenswert. Vergleicht man einmal den im Zuge der Fußball-EM im Jahre 2006 wieder aufgelebten, unbefangenen (und zum Glück auch unaufgeregten) Patriotismus der Deutschen mit dieser Weltzugewandtheit der Esten, die sich trotz oder wegen eines viel stärker ausgeprägten Patriotismus so selbstverständlich einer Internationalisierung ihres Alltags zuwenden, kann man sich nur wundern.

 

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Russischer Breakdancer vor dem Rathaus.

 

Mir begegnete bisher auch kein „Russenhass“. Das ist ebenso bemerkenswert, wenn man die Geschichte des Landes in Betracht zieht. Beim Recherchieren im Internet, habe ich folgende bemerkenswerte amerikanische Seite gefunden.

 

http://heinar2.webs.com/fromestoniatotheusa.htm

 

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Heute regnet es seit dem Morgen ununterbrochen. Wir nutzen das hiesige kostenlose W-LAN zu verschiedenen Recherchen und zur Planung der weiteren Reise. Da die Wetterberichte nichts Gutes verheißen, werden wir morgen zwar wie geplant nach Tartu reisen, dann aber die nächsten Station nicht in Jurmala, einem bezaubernden Seebad, machen, sondern statt dessen in Riga bleiben, wo es gewiss einige regenwettertaugliche Ziele gibt.

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